Die Anarcho-Buben haben die Deutungshoheit, Partygänger den Schaden

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VON MARK BALSIGER

In der Nacht auf heute ist es in Bern wieder einmal zu heftigen Zusammenstössen gekommen. Ähnlich wie in früheren Jahren bei Anti-WEF-Demonstrationen, Antifa-Spaziergängen oder beim guerilla-ähnlichen Kampf gegen den SVP-Alpaufzug durch die Innenstadt vom 6. Oktober 2007. Damit die Relationen gewahrt bleiben: Von den rund 10’000 Leuten, die an der „Tanz dich frei 3“ teilnahmen, waren etwa 100 gewalttätig. Das entspricht einem Prozent.

Viele Tanzende werden von den Eskalationen kaum etwas wahrgenommen haben. Entweder waren sie schon wieder Zuhause oder nicht bei den „hot spots“, wo es knallte. Bern war in der letzten Nacht nicht im Ausnahmezustand. Bilder zeigen praktisch immer eine verzerrte Wirklichkeit, sie wirken dramatischer. Mit dieser Aussage will ich keine Sympathie mit dem, was passierte, signalisieren. Im Gegenteil.

Die Partygänger, die wie vor Jahresfrist auf den Strassen feierten, wurde von einer Hundertschaft instrumentalisiert. Den allermeisten dürfte das egal sein. Dabei sind sie es, die verloren haben. Ihre Bedürfnisse nach mehr Freiraum und Lokalen, die ihren Bedürfnissen entsprechen, haben nach den jüngsten Ausschreitungen und grossen Sachschäden viel weniger Support. Die 9900 friedlichen Demo-Teilnehmende werden in denselben Topf geworfen wie die 100 militanten Idioten.

Gewonnen haben dafür die Anarchisten, die vermummt und teilweise mit einer enormen Zerstörungswut zu Werke gingen. Zum harten Kern dürften ein paar Dutzend Mitglieder zählen, das Sammelbecken stellt die Revolutionäre Jugend Bern dar. Diese kleine Gruppe hat es also geschafft, nach einem langen Kampf mit etlichen Akteuren die Deutungshoheit über „Tanz dich frei“ zu gewinnen. Als Organisatoren legten sie fest, was läuft, im Vorfeld und während der Parade. Mit von der Partie waren auch Krawalltouristen, die immer dann auftauchen, wenn sie aus dem Schutz der Masse agitieren können. Dazu kommen apolitische Trittbrettfahrer, die auch einmal eine Scheibe einschlagen wollten.

Ich lernte einmal durch Zufall ein paar Berner Anarchos kennen. Sie haben noch nie selber Geld verdient, ihre Wäsche macht Mutti, und bei Minustemperaturen bleiben sie lieber zuhause, statt für ihre Überzeugungen auf die Strasse zu gehen. Dass sie am Staat „alles Scheisse“ finden, versteht sich von selbst, längst nicht bei allen sind ihre Überzeugungen gefestigt, die Bullen, ja die Bullen, waren sogar „verdammte Scheissbullen“. In der letzten Nacht haben Anarchos und Autonome einen gloriosen Sieg errungen, der ihnen neue Mitglieder bescheren wird.

Hinter dem Sicherheitszaun standen Sanitäter bereit

Die Anarcho-Buben sind dreist genug, heute auf ihrer Facebook-Page zu verkünden: „Bern lebt wieder!“ Sicherheitsdirektor Reto Nause habe im Vorfeld eine „Hetzkampagne geführt, die eine bewusste Eskalation beinhaltete“. Die Polizei habe die Ausschreitungen zu verantworten. Die Videos der Kantonspolizei zeigen indessen, wie die Strassenschlachten ihren Anfang nahmen. Dass der Sicherheitszaun vor dem Bundeshaus nicht nur das Gebäude schützte, sondern auch Krankenwagen, Sanitäter und Feuerwehr, blenden die Anarchos aus.

Die Aufarbeitung der gestrigen Nacht dürfte nun „gäng wie gäng“ ablaufen: Rücktrittsforderungen (eine liegt schon vor), Strafanzeigen, Leserbriefe bis zum Abwinken, Vorstösse im Stadtrat und auf Bundesebene, eine Sondersitzung der Stadtregierung. Und dabei wird viel Papier produziert.

Ich erkenne, mit Verlaub, nur einen tauglichen Ansatz: Eine Verzeigung, ein paar Tage gemeinnützige Arbeit und 350 Franken Busse sind lächerlich. Strafen müssen schmerzen, und das funktioniert nur über den Geldbeutel. Wenn ein Chaot für seine Zerstörungen 5000, 7000 oder sogar 12’000 Franken bezahlen muss, wird er es sich gut überlegen, ob er bei der nächsten Demonstration wieder zuschlagen will. Hohe Geldstrafen sind die beste Prävention.

Ich plädieren übrigens inzwischen bei allen Verletzungen des Gesetzes für drakonische Geldstrafen.

 Weitere Beiträge:

Grenzenlos naiv, JacoBlök (Blog)
Tanz dich frei, Urslis Nachlese (Blog)
Enttäuschung im Netz nach „Tanz dich frei“ (SRF online)
Bildstrecke auf Flickr von Raphael Moser


Kommentare vom Montag, 27. Mai:

Ein trauriger Tag für Bern und seine Jugend („Bund“, Christoph Lenz)
Masse als Schutz für Krawallmacher („Berner Zeitung“, Wolf Röcken)
Diktatur der Idioten („TagesWoche“, Philipp Loser)

Facebook ist nicht verantwortlich für die Krawalle
(Politblog, Simon Koch, 31. Mai)


Foto: key (via nzz.ch)

 

3 Comments on “Die Anarcho-Buben haben die Deutungshoheit, Partygänger den Schaden”

  1. Alexander Limacher

    «Ich plädieren übrigens inzwischen bei allen Verletzungen des Gesetzes für drakonische Geldstrafen.»
    Was, wenn der Beschuldigte kein Geld hat?

  2. Mark Balsiger

    Anarchos gehören nicht zu den mittellosen Schichten dieses Landes. Wenn die Spätpubertierenden das Geld selber nicht aufbringen, zahlen vorerst halt ihre Eltern. Oder sie stottern es ab, so wie das bei Kleinkrediten auch geschieht.

  3. Mark Balsiger

    Zwei Wochen nach “Tanz dich frei” in Bern, fand in Aarau ein ähnlicher (unbewilligter) Anlass statt. Allerdings waren viel weniger Leute auf den Strassen und das Polizeiaufgebot gross.

    Der beherzte Kommentar in der “Aargauer Zeitung”:

    http://goo.gl/2843j

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