Spätsommer 1996: Ich habe damals als Journalist in Bosnien gearbeitet. Der erste Sommer ohne Granaten. In Sarajevo trampelten sich die „Internationals“ auf den Füssen herum, an jeder Ecke passten Soldaten und Polizisten auf. Eine unverhältnismässige Massnahme, Sarajevo wäre auch ohne sie die friedlichste Stadt Europas gewesen. Die Menschen wollten nach der Belagerung, die fast vier Jahre dauerte, einfach wieder leben, Bekannte besuchen, arbeiten, flanieren, flirten.
Einmal bin ich unterwegs im serbischen Teil Bosniens, der Republika Srpska. Die Strassen sind schlecht, Schlaglöcher allüberall, mein Fortbewegungsmittel ist mit Opel beschriftet, schon längst abgeschrieben, rostig und unzuverlässig. Nach einer langen Fahrt stoppe ich in einer kleinen Stadt und setze mich im Zentrum erschöpft unter ein paar grosse Bäume.
Ich musste eingenickt sein. Ein Geräusch weckt mich wieder, ich schlage die Augen auf – und mein Blut gefriert mir in den Adern, trotz 35 Grad im Schatten. Eine grau-silberne Mähne, luftig geföhnt, buschige Augenbrauen, schmale Lippen, ein Doppelkinn… Keine Zweifel: Radovan Karadzic, der Teufelskerl der bosnischen Serben, den alle fürchten. Auge in Auge.
Das Konterfei des Führers prangt auf einem grossen Plakat, und das wiederum ist auf zwei Holzlattli genagelt. Ein Teenager trägt das Plakat wie eine Trophäe und streckt es mir entgegen.
Innert weniger Minuten füllt sich der Platz, Hunderte von Menschen strömen herbei. Fast alle haben ein Flugblatt oder ein Plakat Karadzics dabei. Dreikäsehochs genauso wie Dattergreise. Das Kürzel SDS ist omnipräsent, so nennt sich seine Partei. Schlachtrufe erklingen, die Menge schaukelt sich hoch. Strassenwahlkampf im Nachkriegsbosnien. Mir wird Angst und Bange.
Ende September 1996: Bei den ersten freien Wahlen nach den Kriegen in Bosnien und Kroatien ist auch die Serbische Demokratische Partei (SDS) von Karadzic dabei – natürlich. Damals wurde Radovan Karadzic, der den Staatsmännern Europas vier Jahre lang auf der Nase herumtanzte, bereits als mutmasslicher Kriegsverbrecher gesucht. Damals stand sein Name noch auf einer schwarzen Liste.
Dieser Tage, 13 Jahre später, wurde er in Belgrad gefasst. Mit einer fremden Identität, verkleidet, als Figur, die gut in Emir Kusturicas üppig-überdrehte Filme passen würde.
Von den ganz Grossen fehlt jetzt noch Ratko Mladic, der oberste Militär der bosnischen Serben, oftmals „der Schlächter vom Balkan“ genannt.
Langsam löst sich Serbien vom Dunkel der Vergangenheit. Der Weg ist lange und schmerzhaft. Ob die Republika Srpska auch schon unterwegs ist ins Heute?
Mark Balsiger
5 Comments on “Auge in Auge mit Radovan Karadzic”
Bei diesen Mehrheitsverhältnissen im serbischen Parlament und im Spannungsfeld zwischen EU und Russland hat Serbien wohl wirklich noch einen langen, steinigen Weg vor sich. Es bleibt zu hoffen, dass auch nächste Schritte folgen werden. Die Ukraine z.B. ist in einer ähnlichen politischen Situation mehr oder weniger blockiert.
Die Republika Srpska gründet auf den furchtbaren ethnischen Säuberungen. Mit Nationalismus wird in der Republika Srpska auch heute noch Politik gemacht. Wenngleich die Spitze der Radikalisierung Vergangenheit ist: Vorerst ist ein Ende der Obstruktionspolitik und damit der politischen Lethargie der Republika Srpska nicht gewährleistet.
Ob die Verhaftung Karadzics tatsächlich die Findung einer gemeinsamen Geschichtsschreibung der Republika Srpska begünstigt und die dringend erforderliche, tief greifende soziale, politische und wirtschaftliche Wende einleitet, wird sich erst weisen.
Die Umstände der Verhaftung deuten auf politisches Kalkül. In zwei Wochen schaffte die neue Regierung – welche die Parlamentswahlen just mit dem Versprechen eines baldigen EU-Beitritts gewann -, was zehn Jahre lang unmöglich schien. Dies erweckt den Eindruck, die Welt sei während Jahren veräppelt worden. Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, bzw. wie viel internationalen Druck es braucht, bis die serbische Behörden Ratko Mladic aus dem Hut zaubern.
Meine anfängliche Euphorie über die Wiedererlangung der herbeigesehnten Gerechtigkeit hält sich heute in Grenzen. Bleibt inständig zu hoffen, dass der lukrative Kuhhandel mit der EU durch letztere aufs engste verknüpft wird mit schonungsloser, öffentlicher Aufarbeitung der Vergangenheit.
Bei der Zeitungslektüre heute Morgen hatte ich ein Déjà vu: Die Bilder von gestern Abend sind praktisch identisch mit denjenigen meiner Erinnerung aus dem Sommer 1996. Gestern wars Belgrad, vor 12 Jahren eine Kleinstadt in der Republika Srpska. Aufgebrachte Massen mit Karadzic-Plakaten huldigen dem ehemaligen Führer der bosnischen Serben.
Etwa 15’000 Personen gingen gestern gegen die Verhaftung Karadzics auf die Strasse. Später am Abend artete die Demonstration in Strassenschlachten aus.
Es gäbe da ganz andere Lektüren, welche vielen Leuten zu verstehen geben würden, wieso diese Leute auf die Strassen gehen. Um nicht immer wieder den Massenmedien zu verfallen, hoffe ich die Menschen wären etwas neugieriger, als das man immer nur die aufgepuschten Berichterstattungen von den namentlich nicht zu erwähnenden Nationen zu glauben. Srebrenica zum Beispiel, oder die Säuberung der Krajna, ganz zu Schweigen über die Bombardierung 1999 wegen des Kosovo-Konflikts.
Die Serben werden sich nicht an die bekannten westlichen Nationen verkaufen wolle, so wie es die Kroaten und die Bosnier leider getan haben. Mit der Auslieferung von Karadzic frage ich mich jedoch, ob dies ein Schritt in die Unterwanderung des Landes ist, oder ob gewisse Leute damit endlich das korrupte Tribunal entblössen wollen, welches nur ins Leben gerufen wurde, damit das funktionierende Yugoslawien garantiert einbricht, weil es ganz einfach zu mächtig wurde.
Die antiserbische Haltung diente ganz einfach nur diesem Problem. Ich verweise auf die unabhängige Berichterstattungen, welche nicht von der Nato, USA usw. beeinträchtig wurden.
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