Die Wir-Schweiz bleibt stärker als die Ich-Menschen

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Der Abstimmungskampf dauerte fünf Monate, war ausgesprochen intensiv und leider oftmals gehässig. In der Schweizer Mediendatenbank werden vom 1. Oktober letzten Jahres bis am 28. Februar rund 7500 verschiedene Artikel referenziert. Pro Tag erschienen über dieses Thema also durchschnittlich 50 Texte. Das ist rekordverdächtig. «No Billag» liess kaum jemanden kalt, es ging faktisch nur um die SRG, die Vorlage spaltete das Land. Umso wichtiger ist das klare Resultat: Das Volk sagte mit 71,6 Prozent wuchtig Nein zur Verstümmelung bestehender Radio- und TV-Sender.

Über Monate hinweg arbeiteten sich Zehntausende von Menschen an der SRG und ihren Angestellten ab – von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer bis zur Wutbürgerin in der hinterfinstersten Gasse in Klein-Basel. Er war eine Abrechnung, unversöhnlich, demagogisch, mitunter sogar hasserfüllt. Das Reizwort «Flüchtlinge» wurde ersetzt durch «SRG» und sie musste für alles hinhalten, am Schluss sogar für die sibirische Kälte der letzten Wochen. In ihren Kommentaren liessen allerdings auch viele «No Billag»-Gegner Anstand und Respekt vermissen.

Es gibt Parallelen zur Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative vor zwei Jahren: Auch damals machte die Zivilgesellschaft den Unterschied. (Okay, der Begriff wurde in den letzten Jahren sehr oft verwendet.) Zehntausende von Einzelpersonen haben sich erneut für ein Nein stark gemacht. Dazu kamen die Efforts von Künstlerinnen, Comedians wie Giacobbo/Müller, Schauspielern, Volksmusik- und Sportverbänden. Operation Libero ist inzwischen auf derselben Flughöhe wie die grossen Parteien, das Komitee «Nein zum Sendeschluss» wiederum konnte 1,5 Millionen Franken an Spenden generieren. Zudem erhielt es von den Kreativen unentgeltlich rund hundert Videos zur Verbreitung, viele davon waren hochwertig produziert. Die Reichweite war mit 200’000 Leuten pro Tag so gross wie nie zuvor.

Die Wir-Schweiz bleibt also deutlich stärker als die Gruppe von Menschen, deren immergleiche «Ich-ich-ich»-Voten wir die letzten Monate gehört haben. Sie blenden aus, das Gemeinsinn unser Land stark gemacht hat.
Die Schlacht ist geschlagen, das Wasser bleibt unruhig, die SRG geht aber gestärkt aus dieser Abstimmung hervor. Sie sollte dem Kredit, den sie mit diesem Plebiszit erhalten hat, mit Demut und Offenheit begegnen. Es muss ihr gelingen, das Gärtchendenken, das sich mit der Konvergenz noch verstärkte, zu beenden. Die Arbeit der Leute in den Online-Abteilungen ist genauso wichtig wie bei Radio und Fernsehen. Ebenso wichtig ist ein Kulturwandel: Es reicht nicht mehr, wenn die Angestellten des Rundfunks einen guten Job machen. Die Programmschaffenden müssen in einen stetigen Austausch mit dem Publikum treten, zuhören, Inputs aufnehmen und vor allem: berührbar werden. Das kann in Schulen, Beizen und bei Service Clubs passieren, in der Stadt und auf dem Land. Mit Anbiederung hat das nichts zu tun. Die «Republik» zeigt, wie dieser Dialog funktionieren soll: «Wir wollen Gastgeber sein, nicht nur digital, auch physisch.»

Die SRG hat eine privilegierte Position. Als gebührenfinanziertes Medienhaus muss sie für die Menschen in unserem Land ein Anker im Sturm sein. Das ist möglich mit überzeugenden Inhalten, mit Dialog und mit Chefs, die intern geschätzt und extern glaubwürdig und empathisch sind. Das neue Generaldirektorengespann Gilles Marchand und Ladina Heimgartner kann diese Erwartungen hoffentlich einlösen.
Der US-Präsidentschaftskampf 2016 hat uns vor Augen geführt, wie mächtig Facebook, Algorithmen, russische Trollarmeen und Fake-News sind. Die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ist anfällig auf eine ähnliche Entwicklung. Umso wichtiger ist die Rolle starker und unabhängiger Medien. Fakt ist: Die privaten Medien stecken in einer tiefen Finanzierungskrise. Die Presse hat von 2011 bis 2016 satte 37 Prozent ihrer Werbeeinnahmen eingebüsst. Das ist dramatisch. Insgesamt generierten sie 2016 noch 1,26 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Der Erlös der Online-Werbung in der Schweiz betrug 2016 bereits 1,09 Milliarden Franken. Der Löwenanteil dieser Summe fliesst zu den IT-Giganten im Silicon Valley, Apple, Amazon, Facebook und Google. Dort sitzt der Feind, nicht im Leutschenbach.

Ende der Neunzigerjahre führten die privaten Medienhäuser ohne Not die Gratiskultur ein. Damit haben sie sich selbst an die Klippen manövriert. Die Medienmanager glauben inzwischen nicht mehr daran, dass man mit Journalismus Geld verdienen kann. Entsprechend bauen sie die Portfolios um. Es geht darum, wer im kommerziellen Digitalgeschäft überlebt. Das Kerngeschäft von früher – die Information – wird dabei komplett marginalisiert. Nach 20 Jahren Gratiskultur ist die Bereitschaft, für Inhalte zu bezahlen, sehr bescheiden.

Übernahmen und Entlassungen werden auch die nächsten Jahre den Medienplatz Schweiz prägen. Das Trauerspiel um die Schweizerische Nachrichtenagentur sda ist ein aktuelles Beispiel. Umso wichtiger ist es, wenn sich das öffentliche Medienhaus SRG behaupten kann. Es hat eine Chance, wenn seine Vorgesetzten nun vieles richtigmachen.

Mark Balsiger

Disclaimer:
Ich war bei dieser Volksabstimmung Kampagnenleiter des Komitees «Nein zum Sendeschluss», also Partei.


Weitere Abstimmungskommentare:

Die «Aber» der schlechten Demokraten (Matthias Zehnder, privater Blog)
Die SRG kann nicht bleiben, wie sie ist (Patrick Feuz, Der Bund)
Es braucht dennoch eine SRG-Reform (Rainer Stadler, NZZ)
Was für ein Signal! (Kasper Surber, WOZ)
Volk beerdigt No Billag – Bürgerliche wursteln weiter
(Gabriel Brönnimann, Tageswoche)
Warum der No-Billag-Streit der Schweiz gut getan hat
(Jacqueline Büchi, Watson)
Nach der Schlacht ist vor der Schlacht (Dennis Bühler, Norwestschweiz)
Jubeltag für die SRG – Reformen sind dennoch nötig
(Claudia Blumer, Tages-Anzeiger)
Die Medienrevolution kommt sowieso (Dominik Feusi, Basler Zeitung)
SRG-Demut ist deplatziert (Erich Gysling, Infosperber)

7 Comments on “Die Wir-Schweiz bleibt stärker als die Ich-Menschen”

  1. George Künzli

    Das Volk hat entschieden. Die unsolidarische No-Billag-Initiative wurde glücklicherweise abgelehnt.

    Ist damit alles gut? Leider nein. Verschiedene Politiker haben angekündigt, in den Räten weitere Vorstösse zu unternehmen, die den „Service Public“ in irgend einer Art beeinflussen werden.

    Hat die Schweizer Politik noch immer nicht gelernt, den Volkswillen zu respektieren? In diesem Falle müssen die Stimmbürger den Politikern mit ihren Stimmzetteln in Erinnerung rufen, dass in unserem Lande das Volk der Souverän ist und nicht der Bundesrat oder das Parlament.

    Jüngere Leute müssten sich politisch mehr engagieren und sich in die Gemeinde-, Kantons- und Bundesparlamente wählen lassen. Dann könnten wir endlich die „Volksvertreter“ durch solche ersetzen, die die Interessen des Volkes auch wirklich vertreten.

    Mein Kommentar kommt von Herzen. Es ist mir als 75-jährigem Mann ein grosses Anliegen, unsere schöne Schweizer Demokratie zu retten und von den Wirtschaftsprofiteuren zu säubern, die unsere Politik seit längerem dominieren.

  2. Roland Kuemmerle

    Erstmal herzliche Gratulation und vielen Dank, Herr Balsiger, für diese tolle Kampagne, die die Problematik dieser Initiative von vielen Seiten beleuchtet hat.

    Ich pflichte Ihnen und dem vorgängigen Kommentar von Herrn George Künzli voll und ganz bei.

    Ich zweifle daran, dass die Mehrheit unserer Politiker inkl. Bundesräte die Interessen des Volkes genügend vertreten. Es scheinen verschiedene Interessenkonflikte zu bestehen, sobald sie einer Partei beitreten wie zum Beispiel für die Sicherung des Listenplatzes oder eines Sitzes in Regierung oder Parlament. Es scheint in der Natur der Sache zu liegen und dementsprechend schwierig für unsere Politiker.

    Der Einfluss der Wirtschaft scheint auch riesig. Es kann aber nicht immer nur mit stetigem Wachstum und Anzahl Arbeitsplätzen argumentiert werden. Das ist aus meiner Sicht zu simpel und nur ein kleiner Aspekt für Lebensqualität und für die Zufriedenheit der Bevölkerung.

    Es geht zB auch um familienfreundliche Einrichtungen, nachhaltigen Umgang mit der Natur und Umwelt (Landschaftsplanung, Biodiversität, Abfallsünder) und das Geld pro Kopf, was den Leuten nach Abzug von Steuern und Krankenkassenprämien effektiv am Schluss im ‚eigenen Sack bleibt‘ etc.

    Vielleicht leben unsere Politiker auch zu sehr in einer Bundeshausblase, wo alle ähnlich funktionieren. Dann verliert man schnell den Bezug zu den Wünschen und Sorgen des/der Durchschnittsschweizers/-in.

    Daher schätze ich Politiker wie Herr Minder, die den Mut haben parteilos für eine Sache einzustehen, die die Bevölkerung bewegt. Ich hoffe, es wird in Zukunft noch mehr unabhängige Minders in der Schweizer Politik geben.

    Zum Glück gibt es auch noch das Initiativ- und Referendumsrecht. Dies ergänzt die so wichtigen ‚Checks and Balances’ einer funktionierenden Demokrative wie wir sie zum Glück in der Schweiz immer noch haben und schätzen. Dieses wäre noch um einiges effektiver und effizienter, wenn es zum eigentlichen Vorschlag, noch ein, zwei Gegenvorschläge gebe. Dann würde es weniger Leerläufe geben.

    Zu den ‚Checks and Balances‘ gehört auch die vierte Gewalt im Staat: möglichst unabhängige Medien wie die SRG, womit wir wieder beim Thema sind. Dies verschafft Nachdruck für Anliegen, die die Mehrheit oder auch Minderheiten des Volkes bewegen.

    Ich bin übrigens erst 42 Jahre ‚jung‘ und kann mich mit keiner Partei voll und ganz identifizieren. Ich wähle und stimme daher opportunistisch und trete dafür ein, was mir am gerade Sinnvollsten erscheint. Ich scheine aber nicht der Einzige im Land zu sein, der so handelt.

  3. Mark Balsiger

    @George Künzli

    Ich verstehe Ihren Unmut. Bei einem derart klaren Resultat könnte man davon ausgehen, dass nun einmal Ruhe ist. Allerdings ist es Standard, dass kurz vor und nach Abstimmungssonntagen neue Vorschläge in die Medienarena geschoben werden. Klar, dann ist ein Thema noch warm, dann kann womöglich die Deutungshoheit erobern oder sich zumindest mit einem guten Vorschlag (bei der eigenen Klientel) profilieren. Es ist ein Spiel – wie vieles in der Politik.

  4. Mark Balsiger

    @Roland Kuemmerle

    Danke für die Blumen. Die Kampagne, die wir umsetzen konnten, stellte nur einen Teil dar. Entscheidend war, dass eine riesige Anzahl Menschen mitgewirkt haben – Sie ja auch.

    Ich greife nur einen Punkt aus Ihrem Kommentar auf: die „Bundeshausblase“. Diese ist real existent, auch wenn sich fast alle Politikerinnen und Politiker rühmen, den Kontakt zu Basis zu haben. Die Realität sieht anders aus, zumal es an allen Ecken und Enden an Zeit fehlt. Das Milizparlament ist ein Mythos, und ich wünschte mir zu diesem Thema mehr Ehrlichkeit.

  5. Andreas Steinmann

    Es ist schon erstaunlich, wie die Befürworter der No-Billag-Initiative sich quasi als Sieger feiern! Das beweist mir, dass wir ein wachsames Auge auf die kommenden medialen Kämpfe im Bundeshaus haben müssen! Wir lassen uns das unabhängige Radio und Fernsehen SRG/SRF nicht kaputtschlagen! Denn: Wir haben meiner Ansicht nach eine der wichtigsten Abstimmungen mit über 70 Prozent klar gewonnen!

  6. Mark Balsiger

    @Andreas Steinmann

    Volle Zustimmung von meiner Seite – bei beiden Punkten. Zum „wachsamen Auge“: Nahe dran bleiben ist nicht einfach. Aber: es gibt keine Alternative!

  7. Pingback: Eine Klatsche für die «No-Billag»-Initianten | Krisenkommunikation. Strategie. Medienarbeit. Kommunikationstraining. - Kommunikationsagentur Border Crossing AG Bern

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