Stehen Mitglieder des eidgenössischen Parlaments frühmorgens vor dem Spiegel, sind die meisten der Überzeugung: „So sehen Bundesräte aus.“ Dieses Bonmot stammt von Altmeister Iwan Rickenbacher und kommt der Wahrheit vermutlich ziemlich nahe.
Eine kleine Minderheit der 246-köpfigen Zirkels ist bei der Selbsteinschätzung kritischer. So der langjährige Berner Nationalrat Adrian Amstutz (svp). Am 28. Februar dieses Jahres nahm er sich in einem Interview mit der NZZ selbst aus dem Rennen:
Der Fraktionschef der SVP bekundete also öffentlich, sich die Befähigung als Bundesrat abzusprechen. Das ist ehrlich und ehrt ihn. Trotzdem wurde er gestern von Parteipräsident Toni Brunner als Kandidat lanciert. Eine konkrete Anfrage hat Amstutz zwar (noch) nicht erhalten, und entsprechend hat er auch keine Zusage gemacht. Solche Personalien werden offenbar in der Sonntagspresse angestossen, die Zusammenarbeit zwischen SVP und „SonntagsZeitung“ funktioniert seit Jahren ausgezeichnet. (Der Titel auf der Frontseite lautet: „SVP will Amstutz als Asylminister“. Die Verben fordern, prüfen und wollen sind in diesem Mediengenre sehr häufig anzutreffen. Das nur nebenbei.)
Ungeschickt an diesem Winkelzug ist, dass Amstutz zur Findungskommission möglicher SVP-Bundesratskandidaten gehört. Ungeschickt ist auch der Zeitpunkt: Die Bundesratswahlen finden erst Anfang Dezember statt. Wer schon jetzt aus der Deckung herauskommt, wird garantiert zerrieben. Die eiserne Regel lautet: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.
Doch richten wir unser Augenmerk generell auf die Bundesratswahlen: Es gibt zwei Kriterien, die für den Wahlerfolg eine überragende Bedeutung haben:
1. Die regionale Herkunft.
2. Möglichst wenigen Mitgliedern der Bundesversammlung auf die Füsse getreten zu sein.
Zu Punkt 1)
Mit der letzten Revision der Bundesverfassung 1999 fiel die sogenannte Kantonsklausel. Seither dürfen mehrere Bundesratsmitglieder aus demselben Kanton stammen. Doppelvertretungen wurden seit 2003 zum Standard:
– Moritz Leuenberger/Christoph Blocher (ZH, 2003 – 2007)
– Moritz Leuenberger/Ueli Maurer (ZH, 2008 – 2010)
– Simonetta Sommaruga/Johann Schneider-Ammann (BE, seit 2010)
Dass drei Mitglieder der Landesregierung aus demselben Kanton kommen, dürfen wir ausschliessen. Für eine solche Kumulation von Würde und Macht wäre die Vereinigte Bundesversammlung nie zu haben, die regionale Durchmischung der Landesregierung wird stark gewichtet. In einem Live-Interview im „Heute Morgen“ von Radio SRF mass Toni Brunner diesem Aspekt keine Bedeutung zu.
Zu Punkt 2)
Die Regel bei Bundesratswahlen ist, dass amtierende National- oder Ständeräte das Rennen machen. In den letzten 40 Jahren gab es fünf Ausnahmen: Otto Stich (SP, alt Nationalrat SO, 1983), Ruth Dreifuss (SP, GE, 1993), Ruth Metzler (CVP, Regierungsrätin AI, 1999), Micheline Calmy-Rey (SP, Regierungsrätin GE, 2002) und Eveline Widmer-Schlumpf (SVP, Regierungsrätin GR, 2007). Sehr gute Karten haben Kandidatinnen und Kandidaten, die umgänglich, breit akzeptiert und in allen Fraktionen gut vernetzt sind. Solche mit Ecken und Kanten hingegen schaffen den Sprung nicht. Auch aus diesem Grund wäre Amstutz‘ Kandidatur chancenlos.
Ein Blick zurück offenbart im Weiteren, dass oftmals weder die Besten und Wägsten noch die Favoriten der eigenen Partei das Rennen machen. Gerade die FDP und die SP mussten immer wieder zähneknirschend zusehen, wie ihnen die Bundesversammlung nicht offizielle Kandidaten aufs Auge drückte. Die SVP machte diese Erfahrung in den Jahren 2000 (Samuel Schmid) und 2007 (Eveline Widmer-Schlumpf).
Mit Verlaub, aber die SVP braucht ihre Lieblingsgegnerin
Die Personalie Amstutz hat noch einen weiteren Haken: Würde er tatsächlich Vorsteher des EJPD und damit „Asylminister“, verlöre die SVP auf einen Schlag ihre Lieblingsgegnerin. Seit viereinhalb Jahren prügelt sie systematisch auf Bundesrätin Sommaruga (sp) ein, genauso wie die SP auf Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (fdp) eindrischt.
Dass die SVP ihr Lieblingsfeld, die Ausländer- und Asylpolitik, aus Rücksichtnahme auf einen eigenen Bundesrat nicht mehr beackern will, darf man ausschliessen. Folglich wird sie alles daran setzen, das ungeliebte Departement nicht zu erhalten. Selbstverständlich deklamiert sie das Gegenteil: „Wir wollen Verantwortung übernehmen!“ – ein Doppelspiel.
Fazit:
Adrian Amstutz’ „Nicht-Kandidatur“ ist für die Galerie. In Tat und Wahrheit ging es mit seiner Lancierung darum, das Thema Asyl mit einer pikanten Personalie zu würzen: Amstutz löste im Frühling 2011 Sommaruga im Ständerat ab, wurde aber ein halbes Jahr später nicht mehr wiedergewählt; zudem mögen sich die beiden überhaupt nicht.
Die „SonntagsZeitung“ produzierte gestern wieder einmal eine „geile Story“, wie das redaktionsintern genannt wird, und diese dreht nun wunderbar. Nicht weniger als 40 verschiedene Medien haben gemäss Swissdox (Stand heute um 12 Uhr) den „Primeur“ bislang aufgegriffen. Die SVP dominiert Schlagzeilen und Agenda, die Medien dienen als Megafon – Business as usual.
Mark Balsiger
Nachtrag vom Dienstag, 11. August 2015, 14 Uhr
Inzwischen verzeichnet Swissdox 70 verschiedene Beiträge zum Thema Nicht-Kandidat Amstutz. Ein längeres Interview gab der Berner Politologe Marc Bühlmann in „Bund“ und „Tages-Anzeiger“.
Foto Adrian Amstutz: derbund.ch
2 Comments on “Adrian Amstutz – eine Nicht-Kandidatur für die Galerie”
Ruth Dreifuss und Micheline Calmy-Rey sind weitere Ausnahmen.
Sie haben Recht, Herr Moser, die Namen Dreifuss und Calmy-Rey sind nun im Text aufgeführt. Beide schafften den Sprung in die Landesregierung, ohne im National- oder Ständerat gewesen zu sein.
Pardon, ich machte einen Fehler.