Bezahlte Online-Kommentare: Medien tolerieren „Dialogkultur“, die ihnen schadet

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Eine hässliche Blüte, die der Abstimmungskampf um die Abzocker-Initiative getrieben hat: Studenten schreiben im Stundenlohn und unter falschen Namen Online-Kommentare. „Pfui!“ erschallt es vielstimmig in Social-Media-Kanälen. Mit Recht. Bewegen müssten sich allerdings die grossen Medienhäuser, die auf ihren Online-Portalen eine „Dialogkultur“ heranwachsen liessen, die ihnen selber schadet.

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Wenn es bei Abstimmungen
hart auf hart geht, werden bei einzelnen Akteuren ethische Codices zu Makulatur. Eine Zürcher Werbeagentur verschob die Grenzen und heuerte Anfang Dezember ein paar Studenten an. Mit Textbausteinen ausgerüstet, füllten sie auf Online-Portalen die Kommentarspalten. Systematisch und mit falschen Namen schrieben sie gegen die Abzocker-InitIative an und manipulierten so die öffentliche Meinung. Wer die Instruktionen liest, die der „Tages-Anzeiger“ in seiner heutigen Ausgabe publik macht, wähnt sich im falschen Film.

Es ist kein Problem, auf den grossen Online-Portalen mit einem Pseudonym oder mit einem falschen Namen mitzudebattieren; teilweise werden nicht einmal die hinterlegten E-Mail-Adressen verifiziert. Das Angebot ist bewusst niederschwellig, lautet doch die Devise bei den Medienhäusern: Je mehr Kommentare, desto besser. Sie wollen die User emotional an ihre Online-Portale binden, Communitys auf- und ausbauen. Das Rennen um Visits und Klicks geht weiter.

Exemplarisch der Aufruf zum Kommentieren von Blick online:

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Es liegt auf der Hand:
Wer online mit einem Pseudonym oder einem falschen Namen debattiert, kann kräftig und dumpf austeilen, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Das ist für ein paar Hundert Leute in diesem Land offensichtlich ein Freipass: Sie lassen Dampf ab, pöbeln und diffamieren. Wer sich einmal durch ein paar Dutzend Kommentare zu einem kontroversen Thema gelesen hat, kennt diese „Dialogkultur“. Sie konnte sich etablieren, weil die Betreiber zu viele Beiträge auf lamentablem Niveau freischalten.

Das es anders geht, zeigte das Wahlbistro, das ich 2008 lanciert hatte und 2010 aus zeitlichen Gründen leider wieder einstellen musste. Dort war die anonyme Teilnahme nicht möglich. Wer mitdebattieren wollte, musste nach der Registrierung zuerst von den Betreibern telefonisch verifiziert werden. Diese Massnahme wirkte sich positiv auf die Qualität der Kommentare aus, alle Teilnehmenden konnten nur mit ihren echten Vor- und Nachnamen Kommentare veröffentlichen.

Wenn die Medienhäuser ihre teilweise noch starken Marken nicht irreparabel schädigen wollen, sollten sie nun endlich Gegensteuer geben. Wer 15 Prozent Marge erzielt, kann es sich leisten, den Online-Kommentaren die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

Dasselbe sollten sich die engagierten Leute der Diskussions-Plattformen Vimentis und Politnetz zu Herzen nehmen. Ich schaffte es vor ein paar Stunden auch dort problemlos, mit einem Fake-Konto („Hans aus Bern“) Kommentare zu publizieren.

Screenshot aus „Politnetz“:

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Ich bin gespannt
, wie sich der Branchenverband der führenden Werbe- und Kommunikationsagenturen (bsw) und, so sie angerufen werden, die Schweizerische Lauterkeitskommission und der Schweizer Presserat zu diesem Fall äussern.

Weitere Beiträge zum Thema:

– Vimentis: Gegner der Abzocker-Initiative kaufen Leser-Kommentare (Thomas Minder)
Der identische Text erschien übrigens auch auf Politnetz. Dort aber wird Claudio Kuster als Autor genannt. Er ist die rechte Hand von Ständerat Minder.

– Arlesheim-Reloaded: Wissen Journis nicht, wie der Hase läuft?

– Cash: Gekaufte Studenten schreiben auf Newssites gegen Abzocker-Initiative
(Mit Updates der sda)

– Jacqueline Badrans Blog: Dauerbrenner Kommentare – ein Lösungsvorschlag

– Tages-Anzeiger/Bund: Polit-Werber auf Abwegen (31. Dez.; Iwan Städler)

– Medienwoche: Kommentare kaufen ist nicht Guerilla-PR (10. Jan. 2013; Daniel Jörg)


Foto: adi

 

 

 

8 Comments on “Bezahlte Online-Kommentare: Medien tolerieren „Dialogkultur“, die ihnen schadet”

  1. Matthias

    Ein paar Gedanken zu diesem wohl recht übereilt und wenig reflektiert hingeschriebenen Beitrag.

    – Der Bogen von bezahlten Studenten zur Klarnamenpflicht als Garant einer besseren Dialogkultur ist mehr als gewagt.

    – Die bezahlten Studenten haben ja vermutlich nicht „kräftig und dumpf ausgeteilt“ oder „gepöbelt und diffamiert“; das wäre kontraproduktiv gewesen.

    – Die Behauptung, dass sämtliche niveaulosen Kommentare von anonymen Teilnehmern stammen, ist völlig unbewiesen. Ebenso unbewiesen ist, dass Klarnamenpflicht automatisch das Niveau verbessert.

    – Tatsächlich hängt das Niveau ganz allein davon ab, welche Kommentare freigeschaltet werden.

    – Ohnehin ist niemand anonym. Bei strafbaren Handlungen ist es ein Leichtes, anhand der IP-Adresse den Täter ausfindig zu machen. Er müsste schon Tor o.ä. verwenden, und das überfordert die technischen Kenntnisse des Otto Normalposters.

    – China hat kürzlich die Klarnamenpflicht eingeführt. China als Vorbild?

  2. Politnetz

    Danke für den informativen Artikel. Eine kurze Anmerkung dazu:

    Neue Inhalte müssen bei Politnetz nicht freigeschaltet werden. Beiträge, Kommentare und Accounts können deshalb schnell und unkompliziert erstellt werden. Die Qualitätssicherung beschränkt sich bei Politnetz deshalb nicht auf ein einmaliges Freischalten, sondern ist vielmehr ein rollender Prozess, der als solcher nie abgeschlossen ist. Neue Aktivitäten werden aus diesem Grund von unserem Community Management von Hand gesichtet, wobei wir bei Verdachtsmomenten auch unsere Community einbinden.

    Fake- und Doppelaccounts werden dank dieser Vorgehensweise über kurz oder lang durch unser Community Mangagement entdeckt. Laut Politnetz-ANB können solche Regelverstösse die Sperrung oder Löschung des Accounts mit sich ziehen.

    Generell: Politnetz möchte ein Umfeld bieten, in dem alle Nutzer gerne mitdiskutieren. Damit dies durchgesetzt werden kann, braucht es ein für alle Nutzerinnen und Nutzer verbindliches Regelwerk: Die sog. Allgemeinen Nutzungsbedingungen (ANB). Diese können unter dem folgenden Link eingesehen werden: http://www.politnetz.ch/anb

  3. michèle meyer

    auf die gekauften stimmungsmacher möchte ich gar nicht eingehen. das ist eine form der manipulation, die mir einfach nur zuwider ist.

    tatsächlich ist das „niveau“ der kommentare, zumindest in den online-zugänglichen medien, mehr als haarsträubend. ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich an der angeblichen nettiquette genauso zweifle, wie am gesunden menschenverstand der kommentierenden und derjenigen, die solches freischalten.

    generell glaube ich nicht, dass die klarnamenspflicht dem abhilfe verschaffen kann, obwohl eine hürde eingebaut wird.

    zudem gibt es immer wieder auch gute gründe nicht-erkennbar zu sein. ich habe selbst in foren und ähnlichen gefässen moderiert, in denen niederschwelliger zutritt wichtig war. es braucht viel fingerspitzengefühl und geduld, aber auch wirklich klare regeln. (welche oft und unverhofft überdacht und angepasst werden müssen.)

    ich denke, dass diejenigen, welche die kommentare freischalten ganz anders geschult werden müssten. und die regeln sollten einheitlicher und deutlicher kommunizierten werden.

    wobei ich schon „höre“ wie sofort „zensur, gedankenpolizei“ etc. gerufen wird. kein einfaches unterfangen.

    ich meine, dass auch die „daumen-rauf-und-runter“-buttons zur stimmungsmache beitragen. da wäre ich ohne wenn und aber für sofortiges abschaffen. abfälligkeiten noch mit x-klicks zu unterstreichen ist noch feiger als selbst solches zu äussern.

    hinzu kommt: titelredaktionen müssten auch endlich über die bücher. für mein empfinden lässt auch da die wortwahl und tonalität immer mehr zu wünschen übrig und ist, gerade, bei komplexen oder emotionsgeladenen (?) themen immer öfters zusätzlicher zündstoff, auch für die kommentierenden.

  4. Mark Balsiger

    Danke für alle Kommentare.

    @Matthias

    Mich interessiert Ihr zweitletzter Punkt: die IP-Adresse, weil ich davon nichts verstehe. Kennen Sie einen Fall, bei dem ein User aufgrund der IP-Adresse bekannt wurde und bestraft werden konnte?

    @Politnetz (ein echter Name wäre nett gewesen; next time?! Danke)

    Die Präzisierungen helfen weiter, besten Dank. Ihre Kontroll-Systematik dürfte sich inzwischen bewährt haben.

    @Michèle Meyer
    Meine Worte: Die Buttons mit „Daumen rauf“ bzw. „Daumen runter“ gehören abgeschafft. Damit wird eine Form von Ranglisten geschaffen, die ich für kontraproduktiv halte.

    Dass die Leute, die Kommentare freischalten, „ganz anders geschult“ werden müssten, unterschreibe ich auch. Wie sie geschult werden, weiss wohl kaum jemand. Das ist kaum ein Zufall, vermute ich.

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